Gründung der Ottonia
Im Zuge dieses einkehrenden Frühlings war es der aus dem Eichsfeld stammende Karl August Eicke, der sich im tiefsten meteorologischen Winter am Jahreswechsel 1865/66 in München aufhielt und zur Aufgabe gemacht hatte, einen überregionalen allgemeinen katholischen Studentenbund zu gründen, zur Pflege religiöser Gesinnung (Religio), wissenschaftlichen Strebens (Scientia) und echter Freundschaft (Amicitia). Da es ihm nicht möglich war, die bereits seit 1851 bestehende Aenania in diese Richtung umzugestalten, gründete er mit 11 Weggefährten am Sonntag dem 28. Januar 1866 im Restaurant „Tivoli“ im Englischen Garten den „Allgemeinen Studentenverein“. Anhand der in den folgenden Wochen nach und nach ausgebauten Statuten lässt sich die beispiellose Energie, der Idealismus und Tatendrang der Gründer ablesen. Die Schwerpunkte des Vereins sollten dabei vor allem auf Bildung des Geistes und Körpers sowie der Förderung und der Pflege echter Freundschaft liegen. Mit dem Fokus „aus seinen Mitgliedern männliche charaktere heran[zu] bilden, begeistert für das Wohl von Kirche und Vaterland.“ Es war Karl August Eicke bewusst, dass solche Pläne über ein eigenes Haus einfacher zu realisieren sind, dies konnte jedoch erst mehr als 50 Jahre später realisiert werden. Die Frage nach dem „Warum“ eines solchen Gründungsakts, hat bereits Bb Martin Luible im ersten Ottonenband überzeugend beantworten können, indem er festhielt, dass der „Verein (…) einen Halt- und Stützpunkt für Studenten darbieten (soll), um namentlich Unerfahrene und Schwächere vor Irr- und Umwegen zu bewahren. (Der Verein) soll (den) Studenten Unterstützung und Ermutigung durch Spenden, Empfehlung, Vermittlung, Freundschaft und Freude bieten. Das Studium soll der Verein durch Anleitung und Nachhilfe (…) erleichtern. (…) Er soll billige und sinnreiche Vergnügungen bieten. Er verwirft das Duell und steht politischen Bestrebungen fern.“ Ausgangspunkt solcher Überlegungen bilden dabei nicht nur die grundlegend anderen materiellen und geistigen Studien- und Lebensbedingungen im Vergleich zum derzeitigen Standard 150 Jahre später, sondern vor allem auch die politische und gesellschaftliche Situation der „deutschen“ Alltagswelten in der Krisenzeit am Vorabend der Deutschen Reichseinigung von 1871. Bereits in der ersten Satzung wurden die noch heute bestimmenden Vereinsfarben bestimmt: Silber, Rot und Gold – heute, 150 Jahre später – scheint den meisten Betrachtern eine solche Farbauswahl willkürlich, doch ein Blick in die zeitgenössischen Sitzungsprotokolle belegt, dass auch dieses Konzept bis ins Detail durchdacht war: Silber (heute: Weiß) und Gold wurden als Vereinsfarben bezeichnet, welche Tugend und Wahrheit, die höchsten Ziele und Güter des Vereins, versinnbildlichen. Kombiniert mit einem purpurroten Grund, als Zeichen echter Freundschaft und Treue, bilden sie einen fruchtbaren Boden für (generationsübergreifende) Zusammenarbeit seiner Mitglieder. Damit bildeten die gewählten Farben die Visualisierung des Ottonen-Wahlspruches, der da lautet: „Der Wahrheit zum Schutz , der Lüge zum Trutz !“ Der Gründer, Karl August Eicke verlies bereits zum Jahreswechsel 1866/67, ein knappes Jahr nach Gründung München, um in anderen Städten die Gründungsarbeit fortzuführen (Eicke wurde schließlich Redakteur beim „Wiener Vaterland“ und verstarb am 11. Dezember 1897 im Alter von 62 Jahren in Wien). Sein Fortgang bedeutete aber auch, dass er davon ausgehen konnte, dass der von ihm gegründete Studentenverein in München von nun an auch ohne ihn arbeiten könne. Tatsächlich, so Luible, „war der neue Verein in München und darüber hinaus in katholischen Studentenkreisen schon bekannt geworden“. Dabei zeichneten sich bereits die ersten Semester besonders dadurch aus, dass der Verein in München zu einem Anlaufpunkt für katholische Studenten aus allen deutschen Landen, vor allem aus dem Rheinland und Westfalen geworden war. Da der Name „Allgemeiner Studentenverein“ aufgrund einer Vielzahl von Neugründungen nicht länger zu halten war, wurde der Verein im März 1867 zunächst in „Münchener Studentenverein“ umbenannt. Der sog. „Bruderkrieg“ oder auch „Deutsch-Deutscher Krieg“ (1866/67) hatte zur Folge, dass insbesondere die Norddeutschen Studenten nicht nach München zurückgekehrt waren, sodass die verbliebenen Vereinsmitglieder sich mehr auf Schulabgänger in München und im Münchener Umland konzentrierten und mit diesen die Aktivitas weiter aufbauten. Die Vorarbeiten zur Aufnahme des Vereins in den Kartellverband Katholischer Studenten, kurz: KV, hatte zur Folge, dass eine weitere Namensänderung nötig wurde, was schlich mit dem neuen Namen „Münchener Katholischer Studentenverein“ (Juni 1867) geschah. Obwohl der Verein in seinen Gründungsstatuten bestimmt hatte, hinsichtlich des Farben- bzw. Nichtfarbentragens neutral sein zu wollen, wurde diese Regelung zugunsten des anstehenden Beitritts in den Verband nichtfarbentragender Vereine (KV) – der Antrag dazu wurde am 9. Januar 1867 gestellt – bis auf das Farbenführen gestrichen (Offizielle Aufnahme in den KV bei seiner ersten Generalversammlung im Juli 1867). Eine der ersten wirklich öffentlichen Aktivitäten des Vereins war am 11. November 1867 eine Veranstaltung im großen Hörsaal der Münchener Ludwig- Maximilians-Universität, anlässlich des sog. „Sieges von Mentana“ der päpstlichen Truppen gegen Garibaldi wenige Tage zuvor. Obwohl ein Großteil der anwesenden Studenten nur anwesend war, um die Veranstaltung zu sprengen, gelang es den Mitgliedern des Studentenvereins doch, diese Veranstaltung in angemessener Würde durchzuführen. Augenzeuge dieser Veranstaltung war Mitglied Msgr. Max Steigenberger, der später in seinem Buch „Aus dem Bilderbuch meines Lebens“ unter anderem festhielt: „(i)hre Tat des heutigen Tages (bedeutet) einen Wendepunkt in der Geschichte der katholischen Studentenschaft der Universität München.“ Unmittelbare Folge dieses gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Verantwortungsbewusstseins war es, dass nun Mitglieder des akademischen Lehrkörpers, die ihrerseits auch zu Mitgliedern der Studentenvereine wurden, damit begannen, sich auch über die akademischen Lehrveranstaltungen hinaus um die Interesse ihrer Studenten zu kümmern. Der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 brachte zunächst keinerlei Veränderungen, abgesehen von der Einberufung sechs seiner Mitglieder, die alle aus dem Krieg zurückkamen. Die Niederlage Frankreichs hatte jedoch neben der Gründung des Deutschen Reiches unter Preußens Führung auch den Zusammenbruch des französischen Protektorats des Kirchenstaats zur Folge, was zusammen mit dem verkündeten Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit in Glaubens- und Sittensachen durch das 1. Vatikanische Konzil zu einer religiö sen Krisis der Jahre 1871/72 führte. Im Zusammenhang damit, traten nicht nur zahlreiche Mitglieder aus dem Verein aus, sondern es entwickelte sich zudem auch eine allgemeine Kritik gegen die katholische Kirche, nicht nur im KV sondern im gesamten Deutschen Reich. Für den Verein jedoch, ermöglichten es nun die finanziellen Mittel bereits im Sommersemester 1872 eine eigene Fahne anzufertigen, die ab diesem Moment zu offiziellen Anlässen mitgeführt wurde. Weniger erfreulich, aber dennoch Teil der Geschichte, waren die wachsenden Spannungen, die auf Basis des Gegensatzes zwischen Süd- und Norddeutschen innerhalb des Bundes ntstanden. Zu den ersten Auseinandersetzungen kam es im Wintersemester 1872/73, die nicht nur zu einem tiefen Riss in der Aktivitas führten, sondern auch, dass sowohl die K.B.St.V. Rhaetia (1881) als eine rein bayerische Verbindung entstand und sich zudem 1883 mit der K.St.V. Saxonia ein großer Teil der Norddeutsche Fraktion abspaltete. Am 12. Juni 1876 – im zehnten Jahr ihres Bestehens – kam es zu zwei weiteren tiefgreifenden Veränderungen: Einerseits wurde die Gründung des ersten vereinseigenen Philistervereins beschlossen, andererseits war es aufgrund einer Vielzahl weiterer konkurrierender Studentenvereine an den Münchener Universitäten notwendig geworden, ein weiteres Mal den Namen zu ändern. Die Wahl fiel schließlich „im Hinblick auf jenen großen Otto, in dem Deutschland den Schöpfer seiner Macht, die Kirche ihre treueste Stütze verehrt“, auf den Namen Ottonia. Dass es sich dabei ursprünglich um Kaiser Otto I. (den Großen) handelte, lässt sich anhand des ersten Wappens festmachen, auf dem das springende weiße Ross mit einer darüber schwebenden Kaiserkrone abgebildet war. Erst nach der Spaltung der Aktivitas in Ottonia und Saxonia, als das Pferd von der Saxonia übernommen wurde, wurde das nun freie Wappenfeld mit bayerischen Farben und einem Löwen gefüllt, was auf eine dezidiert bayerische Orientierung der Studentenschaft schließen lässt (seitdem ist auch die Frage nach dem namensgebenden „Otto“ offener, da es auch in der bayerischen Geschichte mit Otto von Freising und Pfalzgraf und Herzog Otto I. von Wittelsbach zwei potentiell bayerische „Namenspatrone“ gäbe, auf die der Name zurückgeführt werden könnte). Durch die Rekonstituierung der 1873 gegründeten K.St.V. Erwinia und einer weiteren Spaltung (K.St.V. Rheno-Bavaria, 1903) verkleinerte sich die Aktivitas erneut, was jedoch nichts daran änderte, dass die folgenden Jahre geprägt waren von einem starken Wachstum, wachsender überregionaler Bedeutung der Ottonia auch hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Prosperität. In diesem Zusammenhang verfügte die K.St.V. Ottonia laut Mitgliederverzeichnis im Frühling 1914 über 92 Aktive, 20 Füchse und mehr als 200 Philister.